SchuldLOS. Die lange Reise des Amadeus Glückskind. Roman
GuiltLESS. The long Journey of Amadeus Glückskind. Novel
NON coupable. Le long voyage d’Amadeus Glückskind
Durch den Wald, Hinter der Zeit. Roman
A Houseful of Ghosts. Novel
La maison de mes esprits. Roman
Vorankündigung: Demnächst!
Übersetzung – Englisch/Französisch – geplant
Im Leben dreht sich alles um die Liebe, aber eigentlich geht es mehr noch um den Tod. An genau diese Worte ihres Vaters erinnert sich die 19jährige Alva, als sie mitten in der Nacht die Londoner Stadtwohnung verlässt. Klammheimlich. Sie schleicht sich hinaus, während im Zimmer nebenan ihre Eltern schlafen. Wütend und aufgebracht und kreuzunglücklich über das unmissverständliche Verbot, das Stunden zuvor ausgesprochen worden war. „Du willst ganz allein Mexiko durchqueren? Chile? Argentinien? Niemals!“ Sie hatte geweint und gebarmt und gefleht; vergebens. Um 3 Uhr in der Nacht steigt Alva in den nächstbesten Zug, der nach Wien fährt. Dort angekommen, trifft sie eine Entscheidung, die ihr Leben radikal verändern werden wird.
Leseproben
Prolog: Und in des Waldes Dunkel schlafen die Wölfe.
Prolog
Bro, Regisseur und Theaterkritiker
Ob ich mich erinnere? Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Es goss in Strömen, wie sich das für eine Beerdigung gehört. Ich wusste, es würde schlimm werden. Ich irrte mich. Es wurde schlimmer. Und noch ahnte ich nicht, dass das Schlimmste mir noch bevorstand. Ja, ich erinnere mich. Ein Scheißtag. Ich war nicht sturzbetrunken, ich war es nur fast, anders hätte ich diesen verfluchten Tag auch nicht durchgestanden. Der Journalist Ben Kohlmann und die Bühnenbildnerin Clara Wiesenbaum wurden an einem Spätsommertag auf einem kleinen Züricher Friedhof zu Grabe getragen und alle waren gekommen. Sämtliche Familienmitglieder, Freunde und diejenigen, die sich nun Freunde nannten, es aber nie gewesen waren. Journalisten aller Couleur, Schauspieler, Autoren, Regisseure, etliche Bühnenbildner, Beleuchter, Redakteure und so weiter. Aus London, München, Paris, Wien, Hamburg, New York; woher auch immer, waren sie angereist. Minutenlang hatte ich das Gefühl, mich an einem Filmset zu befinden. Es wurde geschnieft und geschnattert, geflüstert und getuschelt. Ich hasste sie allesamt, wie sie da so herumstanden. Ich hasste die vor Mitgefühl Triefenden, die mittelmäßig Begabten, darunter die eine oder der andere, die peinlich berührt wären, erinnerte man sie daran, wie durchtrieben sie es geschafft hatten, sich einen festen Platz auf den Besetzungslisten zu ergattern. Ich hasste die mir gut bekannten Arschkriecher, wer kennt diesen unangenehmen Typus nicht? Und natürlich die versumpften Moralisten unter den Journalisten, Politikern, Kritikern und Autoren, die hechelnd jedem Zeitgeist hinterherbuckeln und alles, was ihnen nicht in den Kram passt, niederwalzen. Ich hasste die Neider und Missgünstigen, die besonders gut im Aushecken von Intrigen sind, die Feiglinge, die aus Angst, nicht engagiert zu werden oder einen Auftrag nicht zu bekommen, das Maul halten, sich nur äußern, wenn sie daraus einen Vorteil schlagen können. Auch sie waren also gekommen. Ich hasste die charmanten Opportunisten, die leicht auszumachenden Voyeure und zu guter Letzt hasste ich meine ganz persönlichen Feinde, von denen der eine oder die andere ebenfalls anwesend waren. Selbst die Gegenwart und tief empfundene Anteilnahme meiner Freunde war für mich eine Qual. Alles war mir zuwider. Ich konnte nicht anders. Und litt wie ein Hund. Das Schlimmste aber war die bittere Erkenntnis, dass ich sie alle irgendwie kannte. Und sie kannten mich. Mir wurde noch nie so deutlich vor Augen geführt, dass der Ort der Verdammnis nicht mehr weit ist, wenn jeder Trottel auf der Straße einem die Hand geben will. Es war die Hölle. Ich hasste sie alle mit einer glühenden Inbrunst, die mich erzittern ließ und mich gleichzeitig daran erinnerte, in diesem Moment selbst das größte Arschloch zu sein. Clara hatte sich durch ihre spektakulären Bühnenbilder weit über Europa hinaus einen Namen gemacht, ebenso wie Ben, der als investigativer Journalist von London aus für verschiedene, zumeist englischsprachige, aber auch für diverse deutsche Printmedien gearbeitet hatte und das überaus erfolgreich. Die unübersehbare Menschenmenge ließ keinen anderen Schluss zu: Niemand hatte sich das Drama entgehen lassen wollen. Zugegeben; es war eine großartige Zeremonie. Perfekt organisiert. Schöne, auffällig gut gekleidete Menschen, die sich weinend an den Händen hielten. Mein Blick schweifte hinüber zu den engsten Familienmitgliedern, darunter Martha und Vito, Bens Kinder aus dessen erster Ehe, deren unermessliche Verzweiflung mich schier zerriss. Hat Leiden einen Sinn? Nein, Leiden hat keinen Sinn. Nur ein Narr mag daran glauben wollen. Was für ein Scheißdrama! Die Pressemeute der Boulevardmedien lungerte am Eingang herum. Es wäre einem Wunder gleichgekommen, sie nicht hier vorzufinden. Nur eine fehlte. Alva. Acht Wochen waren seit dem Absturz vergangen. 230 Passagiere hatten aufgrund eines Triebwerkschadens ihr Leben verloren. Allein die monströse Zahl der Toten klang in meinen Ohren obszön.
Woche für Woche hatte ich mich hartnäckig geweigert, einer Beerdigung zuzustimmen mit dem Argument, es würde Alva nach ihrer Rückkehr das Herz brechen, zu spät gekommen zu sein. Doch je mehr Zeit verging, desto lauter wurden die Vorwürfe. Irgendwann brüllten Bens Vater und ich, mit dem mich, außer einer genetisch bedingten Verwandtschaft, die ich mir freiwillig niemals ausgesucht hätte, nur noch an. „Wie lange sollen sie noch in diesem verfluchten Kühlfach dahinvegetieren, wie lange? Es ist eine Sünde, sie dort Woche für Woche liegenzulassen. Ben ist mein Sohn und Clara ist unsere Schwiegertochter. Wer gibt dir das Recht, ihnen die letzte Ruhe weiterhin vorzuenthalten? Wer, Broder? Deine Verbohrtheit ist zum Kotzen! Alva wird es verstehen. Schließlich hat meine Enkeltochter eigenmächtig entschieden, sich bei Nacht und Nebel auf- und davonzumachen, ohne auch nur eine einzige Nachricht zu hinterlassen. Kein Anruf bis zum heutigen Tage. Nichts! Einfach nichts! Es reicht!“ Zu meinem grenzenlosen Erstaunen begann er urplötzlich eine beträchtliche Anzahl nie gehörter Flüche auszustoßen. Ein Schwall nicht druckfähiger Wörter überflutete mich. Bestürzt nahm ich es wortlos hin. Der Mann und Vater, dessen zuckendes Gesicht hochrot glühte, war fertig. Erledigt. Er hatte recht. Ja, der Alptraum musste ein Ende haben. Ich nickte, drehte mich um und verließ das Haus.
Sieben Tage nach diesem Gespräch starrte ich regungslos auf die Särge der beiden Menschen, die für mich Familie gewesen waren. Ich stand der schlimmsten Heimsuchung meines Lebens gegenüber. Meine Trauer war grenzenlos, meine Wut ebenso. Irgendwann erwischt es jeden, dass es aber gerade diese beiden erwischt hatte; so früh, zu diesem Zeitpunkt, war nichts anderes als eine teuflische Schweinerei. Mein vernebelter Blick irrte umher, folgte einem dahinkriechenden Wolkenfetzen, dessen leichenhaftes Grau mich schaudern ließ. Nach Luft ringend, griff ich mir an den Hals. Und floh. Natürlich wurde mein vorzeitiger Abgang nicht unkommentiert gelassen. Man munkelte wochenlang nicht nur in Theaterkreisen; der für seine gnadenlosen Rezensionen berüchtigte und gleichermaßen gefeierte Theaterkritiker Raimund Broder sei so betrunken gewesen, dass er sich mit wilden Augen in die ausgehobene Grube habe stürzen wollen. Nur mit großer Mühe und vollem Körpereinsatz sei es gelungen, so echauffierten sich einige besonders boshafte Zungen hinter vorgehaltener Hand, ihn davon abzuhalten. Eine verdammte Lüge! Die Wahrheit ist, dass ich mich mit einer gen Himmel geballten Faust vom Ort des Geschehens entfernt hatte. Nun gut, ich will nicht ganz ausschließen, dass mir das eine oder andere unwesentliche Detail entfallen sein könnte. Wer kann schon von sich etwas anderes behaupten?
Und in des Waldes Dunkel schlafen die Wölfe. Kapitel IV. Die große Empörung
Auszug
Und in des Waldes Dunkel schlafen die Wölfe. Roman. Catali Dennhof
IV.
Die große Empörung
Die dunklen Schatten der hungrigen Wölfe, deren wehmütiges Heulen der Wind Nacht für Nacht zu ihr trug, waren es nicht. Auch nicht das wilde Hunderudel, auf das Alva, mutterseelenallein, in einer gottverlassenen Einöde kurz vor Erreichen der ukrainischen Grenze stieß. Selbst die um Haaresbreite tödlich verlaufene Viruserkrankung; wochenlang hing ihr Leben nach ihrer Rückkehr auf Messers Schneide, wie auch der schicksalhafte Tod ihrer Eltern vermochten es nicht, ihren Eigensinn zu brechen. Alva stand nach ihrer Genesung auf, öffnete die Tür und folgte den Verlockungen, die geduldig auf sie gewartet hatten. So, als ob nie etwas gewesen wäre. Zumindest tat sie alles dafür, dass es so aussah. „Es wird sie früher oder später einholen, ganz sicher; eine derart fürchterliche Tragödie hält kein Mensch unbeschadet aus“, wurde innerhalb der weitverzweigten Familie, einschließlich des unübersehbar großen Bekannten- und Freundeskreises, wiederholt prophezeit. Fast hätte man meinen können, sie warteten samt und sonders mit einer gewissen morbiden Sehnsucht darauf, die 19jährige zusammenbrechen zu sehen. Doch das stimmt nicht, ganz sicher meinten sie es nur gut. Irgendwie. Mutmaßungen dieser Art, kamen sie Broder zu Ohren, lösten bei diesem regelmäßig heftige Wutausbrüche aus. Er verfiel augenblicklich in alte, längst verbannte Verhaltensweisen und verbat sich brüllend solcherart hirnverbrannte, saudumme Spekulationen.
„So viele gottverdammte Jahre sind vergangen! Und immer noch wird darüber geredet. Ich werde die ganze Bagage erschießen, wenn sie nicht damit aufhören“, verkündete er eines Tages leichtsinnigerweise gegenüber einem harmlos dreinblickenden Journalisten bei einem Bier in der Theaterkantine. Der gar nicht so Harmlose eilte anschließend flugs zu seinem Chef, dessen düster verhangene Augen freudig aufblinkten, als er Wort für Wort Broders Auslassungen zu hören bekam. Seine unübersehbar gehässige Freude hatte natürlich einen tieferen Grund, und dazu muss etwas ausgeholt werden: Des Chefredakteurs makelloses Ansehen war; seiner ureigensten Überzeugung nach, brutal beschädigt worden, sein Ruf und sein Einfluss hatten gelitten, und am Ende war auch noch seine Ehe den Bach runtergegangen. Ein beruflicher und privater Absturz ohnegleichen. „Schuld ist einzig und allein der Saukerl Broder“, hörte man den Zeitungsmacher wiederholt nach dem dritten Glas Wein mit wutverzerrtem Gesicht sagen. Sagen ist ein wenig untertrieben. Er spuckte die Worte regelrecht auf den Tisch. Die Ursache für seine lodernde Wut entsprang einer absurd-skandalösen Aufregung sechs Monate zuvor, auf die ein wochenlanges Tamtam in den Medien gefolgt war, hervorgerufen durch eine kurz und knapp gehaltene Rezension eines Theaterstückes, das schon vor der Uraufführung in den Feuilletons verschiedener Zeitungen Lorbeeren eingeheimst hatte. Der Theaterkritiker R. Broder, von seinen Bewunderern nahezu gottgleich verehrt, hatte die Inszenierung einer jungen und erfolgsverwöhnten Regisseurin in Bausch und Bogen verrissen. So weit, so gut. Zufälligerweise war ebendiese zum Zeitpunkt der Premiere die Ehefrau des erwähnten Chefredakteurs. Hätte der erfahrene Blattmacher sich nur still verhalten! Wäre er nur klug genug gewesen, das armselige Geschwätz seines Jung-Redakteurs zu ignorieren. War er aber nicht; dazu später. Jetzt, nachdem sein übereifriger Redakteur geendet hatte, sah er den seit Langem herbeigesehnten Tag der Abrechnung gekommen. „Er ist dran, der alte Scheißkerl! Erschießen hat er gesagt? Er will sie alle erschießen? Wortwörtlich? Bier gesoffen? Am frühen Nachmittag? Ist doch nicht zu fassen! Liegt der Bursche deshalb immer noch nicht in der Kiste? Ach, verdammt, ich sollte meine Abstinenz zum Teufel schicken! Was macht er? Halbmarathon? Verschone mich damit! Interessiert mich einen Scheißdreck, was der Kerl in seiner Freizeit macht. Jetzt hab ich ihn! Ich mach ihn fertig!“, soll der Chefredakteur hasserfüllt ausgerufen haben, jedenfalls wurde es genau so über zehn und mehr Ecken herumposaunt. Diejenigen, die in Windeseile davon erfuhren, amüsierten sich königlich. Sie alle liebten Gerüchte jeglicher Art, natürlich nur, wenn sie selbst nicht davon betroffen waren. In Wien, Zürich, London, Paris, Berlin, New York; ganz egal wo. Einerlei. Wobei: im Umgang mit den Medien gab es unter Künstlern einen unausgesprochenen Verhaltenskodex. Presseartikel oder Interviews waren unentbehrlich und erwünscht. Anbiederung galt als verpönt. Natürlich hielten sich nicht alle daran. Nicht selten war die Eitelkeit größer. Das Geld verlockender. Es gab in der Vergangenheit nicht wenige Schauspieler, Sänger oder Stückeschreiber, die ihren eigenen Wert an der Anzahl der über sie geschriebenen Artikel glaubten messen zu können: Privatsphäre hin oder her. Wenn über dich nicht mehr geredet oder geschrieben wird, bist du mausetot, also hab dich nicht so. Erstaunlich viele folgten diesem strohdummen Ratschlag und ruinierten so nicht selten innerhalb weniger Jahre ihren guten Ruf und damit einhergehend auch ihre künstlerische Lebensleistung. Je höher der Aufstieg, desto schneller der Fall. Wir wissen das doch alle. Eigentlich.
Und nun zum eigentlichen Grund für das ganze Getöse: Broders sechs Monate zurückliegende Rezension der besagten Uraufführung in Wien, inszeniert von der – mittlerweile – Ex-Frau des Chefredakteurs, hatte er seinerzeit mit folgenden Worten enden lassen: ‚Ich empfehle Ihnen, meine lieben Leser, vorausschauend eine Augenmaske, Ihr Mobiltelefon und ein paar gute Kopfhörer einzupacken, so besteht die Chance, nach dem letzten Vorhang nicht in Trübsal, Weltekel oder gar Schwermut zu verfallen. Das Röcheln, Gespucke und Geschrei; geschenkt. Überraschend jedoch die erstaunliche Anzahl vulgärer Ausdrücke; niemals zuvor so gehört, aber man lernt ja bekanntlich nie aus. Es hilft, schmerzerprobt zu sein. Die Vielzahl obszöner Handlungen lassen – seien Sie gewarnt – Wünsche aufkommen, von denen Sie sich längst verabschiedet zu haben glaubten. Zum Beispiel, ganz woanders zu sein. Weit, weit weg. Und das schnellstmöglich. Die auf der Bühne explizit gezeigten Geschlechtsakte in allen möglichen und unmöglichen, um nicht zu sagen; verrohten Spielarten, könnten zudem bei zart besaiteten Gemütern dazu führen, dass diese anschließend ihren Partner oder ihre Partnerin auffordern werden, eine oder mehrere Nächte auf dem Gästesofa zu verbringen. Im allerschlimmsten Fall werden Sie dazu genötigt, gleich ganz zu verschwinden. Seien Sie also gewappnet!‘ Ein gewaltiger Shitstorm folgte. Drohungen und Beschimpfungen der übelsten Art an die Adresse des Kritikers. Im Grunde genommen das, was auf jeden niederprasselt, der es wagt, sich nicht um etwaige Empfindlichkeiten irgendeiner Gruppe zu scheren. „Es ist zum Kotzen, aber wer nicht bereit ist, die Wahrheit zu leugnen, kotzt gern“, gab Broder auf Nachfrage einer Zeitung zur Antwort und verschwand. Wohin auch immer. Und dann folgte, was in so einem Fall bekanntlich folgt: Eine Flut von Solidaritätsbekundungen für die Regisseurin rollte durch die Medienlandschaft. Wortstarke Feministinnen stellten die Forderung auf, Männern müsse per Gesetz verboten werden, künstlerische Arbeiten von Frauen zu beurteilen. Zur allgemeinen Erleichterung wurde diese Forderung sehr bald unter ‚Bullshit‘ eingeordnet und verschwand sodann im Orkus. Broder wurde Diskriminierung Andersdenkender im Allgemeinen, von Künstlerinnen im Speziellen und – natürlich – Sexismus vorgeworfen. Für diese Unterstellungen; neutrale Beobachter nannten es eine ganz üble Rufmordkampagne, hagelte es von anderer Seite heftige Kritik. Auf Seiten der Unterstützerinnen der Theaterregisseurin, das muss – leider, leider – bestätigt werden, wurde gnadenlos diffamiert, verfälscht, ja, sogar gelogen, dass sich die Balken bogen. Je lauter der Protest, desto wohler schien sich der Kritiker zu fühlen. Ein großer Irrtum.
Broder litt. Und wie er litt. Unzählige Interviewanfragen lehnte er mit der Begründung ab, dass jedes weitere Wort eines zuviel sei. Alles sei gesagt. Die Mehrheit, vor allem die stille Mehrheit der Theaterbesucher, stimmte dem Urteil des Kritikers voll und ganz zu. Das allerdings blieb fast unbemerkt. Leisesein ist ein wenig erfolgversprechendes Verhalten, wenn es darum geht, sich Gehör zu verschaffen. Der Kritiker ging davon aus, dass sich die medial aufgeblasene Aufgeregtheit ruckzuck legen würde, was nicht anders als reichlich naiv genannt werden muss. Wenig später musste er zugeben, dass er sich gewaltig getäuscht hatte. Die Empörung blieb nicht nur, nein, sie schaukelte sich wie eine Epidemie in eine ganz neue Dimension hoch und höher. Hinter verschlossenen Türen sickerte durch, dass die Regisseurin in der Nacht nach Erscheinen der Kritik das Photo des Kritikers und eines seiner Bücher verbrannt und dabei geschworen habe, sie würde ihm die Eier abschneiden. Von einem Krankenwagen und gellendem Wutgeheul war die Rede. Das Geschnatter und Getratsche, die vielen Wortverdrehungen und falschen Behauptungen wurden von Woche zu Woche schriller und abgedrehter. Die Gerüchteküche war im wahrsten Sinne des Wortes kurz vorm Explodieren. Schlussendlich zog sich Broder, von dem Rummel um seine Person allzu genervt, in seine Schweizer Berghütte zurück. Kaum war der Kritiker von der Bildfläche verschwunden, richtete sich der Blick der Journalisten, Blogger und Schnüffler schlagartig auf das schillernde Ehepaar; die Regisseurin und ihren Mann, den Chefredakteur. Erstere hatte sich auf Anraten wohlgesonnener Freunde aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Man munkelte, sie schreibe an einem neuen Bühnenstück. Eine stadtbekannte Agentin soll ausgeplaudert haben, dass in jeder Szene das Blut nur so spritzte. Nun ja. Geredet wird viel. Und dann, keiner weiß genau, warum und wieso, kamen Fragen auf: Warum hat der Eheman bislang geschwiegen? Ist die Androhung von Rache aus feministischer Sicht gerechtfertigt? Ist es ein Fall für die Justiz, wenn eine Regisseurin einem Mann androht, ihm die Eier abzuschneiden, weil ihr eine Kritik nicht in den Kram passt? Hat sich der Chefredakteur das – mittlerweile abgesetzte – Theaterstück seiner Ehefrau überhaupt angesehen? Hatte er, zugegebenermaßen, nicht. Muss der radikale Feminismus, der scheinbar keine roten Linien mehr kennt, gestoppt werden? Was sagt die Politik dazu?
Die immer lauter werdende Empörung in den Medien und das nach draußen gesickerte, verstörende Benehmen seiner Weggefährtin ließen die Nervenstränge des Journalisten mächtig vibrieren, bis eines Tages, nach einem quälenden Ehestreit; die schrillen Vorwürfe rissen eine Wunde nach der anderen auf -, seine Contenance endgültig flötenging und sich in einem gewaltigen Wutausbruch entlud, der dazu führte, dass zwar nicht seine Frau, die Regisseurin, jedoch deren Kater; ein hochsensibles und gleichermaßen misstrauisches Geschöpf, schreiend das Weite suchte. Das Tier hatte genug. Der Ehemann auch. Er wäre allzu gern hinterher gesprungen. Und als ob das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre; ein einziges großes Elend, beging der Chefredakteur nach einer schlaflosen Nacht einen groben, ja, einen unverzeihlichen Fehler. Kurzfristig beantragte der bis dato überaus eloquente Macher eine berufliche Auszeit und ward nicht mehr gesehen. Von wegen! Ein vorschnell gestreutes Gerücht, weil: ein aufmerksamer Flugpassagier hatte ihn, wie der Zufall es so will, leibhaftig entdeckt. Quasi auf frischer Tat ertappt. Der renommierte, mit Preisen überhäufte Journalist war von einem offensichtlich belesenen Reisenden – trotz seiner Sonnenbrille – erkannt und sofort abgelichtet worden. Richtig dumm gelaufen!
Es darf vermutet werden, der ausgefuchste Beobachter, von Beruf Anwalt – natürlich, was denn sonst? – hoffte, mit dem Verkauf des Bildmaterials ein gutes Geschäft machen zu können. Ein zweifellos raffgieriger, nur bedingt symphatischer Zeitgenosse. Wie auch immer. Das auffällige Modell der Sonnenbrille, über das nach Erscheinen des Photos tagelang in den digitalen Medien gespottet und gelästert wurde, hatte mit Sicherheit zur Enttarnung beigetragen. Eitelkeit kann sich böse rächen. Manche Dinge gehen einfach schief, weil sie schief gehen sollen. Der mit allen Wassern gewaschene Journalist hatte nicht nur die Nerven verloren, sondern war Hals über Kopf geflohen. Ja, das war er. Es folgte sogleich, was folgen musste: Der Mob richtete nun seine digitalen Giftpfeile auf den Mann, der mit der ganzen Sache – also mit diesem absurden, lächerlich hochgepushten Skandal – rein gar nichts zu tun hatte, der also, seien wir fair, zumindest in diesem Punkt unschuldig war. Weder hatte der Chefredakteur eine Kritik geschrieben – noch ein Theaterstück inszeniert, er war einzig und allein der Mann der Theaterregisseurin. Nun deuchte ihm allmählich, dass er nicht nur einen saublöden Fehler begangen, sondern womöglich auch die falsche Frau geheiratet hatte. Doch wie so oft im Leben: Die Reue kam zu spät. Viel zu spät. Pech gehabt. Denn nun kam es knüppeldick, weil am Folgetag alle, wirklich alle darüber informiert worden waren, dass der bislang untadelige Journalist seine Ehefrau, die immer noch von Zorn erfüllte Regisseurin, zuhause gelassen hatte. Allein. Er habe sich hasenfüßig aus dem Staub gemacht, so jedenfalls stand es in einer konkurrierenden Zeitung, was augenblicklich zu einem richtig geifernden Shitstorm führte; weg von Broder, für den sich plötzlich kein Schwein mehr interessierte.
Hohn und Spott, schlimmste Beleidigungen und unflätige Beschimpfungen folgten auf dem Fuße: Der feige Egoist habe seine Lebensgefährtin; eine hochangesehene Künstlerin, Feministin und Aktivistin, von heute auf morgen verlassen, nachdem deren mutige Inszenierung durch einen alten, erzkonservativen Kritiker künstlerisch herabgewürdigt worden war. Eine doppelte Demütigung! Das alles war so oder so ähnlich tagelang auf diversen digitalen Plattformen, aber ebenso, wenn auch deutlich zurückgenommener in der Form, dafür mit mehr Süffisanz, in verschiedenen Printmedien zu lesen. Die Empörung unter den Empörten, eine – mit Verlaub – zahlenmäßig im Grunde unbedeutende Gruppe, schwoll zu einer unappetitlichen Lawine an. Die Regisseurin wurde von zahlreichen Feministinnen und prominenten Frauenrechtlerinnen aufgefordert, sich sofort scheiden zu lassen. Das tat sie dann auch prompt. Wochen später trafen sich beide Ehepartner, jeweils getrennt, mit ihren Scheidungsanwälten, worüber der Blattmacher, das nur nebenbei, nicht sonderlich unglücklich gewesen sein soll. Zumindest plauderte diesen hässlichen Verdacht ein Kolumnist, zugleich enger Freund des Chefredakteurs, aus. Im Zweifelsfall eine Lügengeschichte. Wer weiß. Später, sehr viel später kam heraus, dass die Theaterregisseurin selbst ihren Mann aufgefordert hatte, auf irgendeine Insel zu verschwinden. Das Flugticket war unter ihrem Namen gebucht worden. Übrigens: Das Flugzeug, in dem der Journalist gesichtet worden war, hatte St. Lucia zum Ziel. Ein traumhaft schöner Ort in der Karibik, den man sich finanziell leisten können muss, wie der Artikelschreiber seine Leser genüßlich informierte. Oh je, bitter, richtig bitter. Selbst Broder bekam Mitleid mit dem armen Mann. Letzterer kehrte sehr schnell zurück an seinen Arbeitsplatz, der – wenig überraschend – hörbar wackelte, was niemanden, wirklich niemanden verwunderte. Kurzum: Es knirschte gewaltig im Gebälk.
Angesichts dieser verrückten und reichlich dekadenten Posse muss man sich ernsthaft fragen, so formulierte es ein nachdenklich wirkender französischer Philosoph in irgendeiner deutschen Talk-Show, ob wir uns nicht alle schon längst in der Hölle befinden. Zum Entsetzen seiner großen Anhängerschar – Millionen Follower folgten ihm auf seinem Account – wurde bekannt, dass er wenig später in einem Interview von westlicher Dekadenz, Sodom und Gomorrha, Zerstörung von Familienstrukturen und sogar noch die Aussage getätigt haben soll, dass Glaubenslosigkeit mit Verrohung und Kriminalität einhergehe. Eine Gesellschaft ohne Gott sei dazu verurteilt, früher oder später unterzugehen. Der zuvor für seinen rigorosen Atheismus bekannte Intellektuelle, Autor zahlreicher Bücher, zog sich nach dieser Äußerung in ein Kloster, fernab jeglicher Zivilisation, zurück. Das aufgeklärte Milieu schnappte nach Luft, einer Ohnmacht nahe. Auf diversen digitalen Plattformen erhitzten sich die Gemüter noch und nöcher. Eine Schlagzeile nach der anderen jagde durch das Land. Freunde sagten sich von ihm los. Follower löschten seinen Namen. Von Verrat war die Rede. Ihm wurden Gewalt und Schlimmeres angedroht. Ach, es wurde ganz und gar fürchterlich. Ein renommierter Psychiater gab auf Nachfrage zur Antwort, man müsse sich um den Zustand der Gesellschaft Sorgen machen. Die Reaktionen auf Meinungen, die nicht dem Zeitgeist entsprächen, hätten Anteile einer kollektiven Hysterie. Aber siehe! Irgendwann war auch diese – geradezu wahnhafte – Entrüstung vorüber. Der wütenden Empörung war endlich die Luft ausgegangen. Das Privatleben aller Beteiligten war hinreichend ausgeschlachtet worden. Erschöpft lehnten sich die Empörten zurück. Es wurde still. Für eine kurze Zeit wurde es sogar sehr still. Am Ende blieb nur eine Aussage unverrückbar bestehen: Es war eine grottenschlechte Inszenierung gewesen. Und auch in einem weiteren Punkt bestand Einhelligkeit: Wohl niemand außer Broder hätte den Mumm aufgebracht, die hochnotpeinliche Inszenierung in Grund und Boden zu stampfen, wo sie nun einmal zu Recht hingehörte.
Und nun das. Sechs Monate später holt ihn diese ausgestanden geglaubte Farce wieder ein. Hinterrücks. Blöd gelaufen für Broder, in dessen Augen ein böses Glimmern erschien, als er folgende Schlagzeile las: Der berüchtigte Regisseur und Theaterkritiker R. Broder hat lauthals und in aller Öffentlichkeit verkündet, Freunde und Verwandte erschießen zu wollen. Müssen wir uns Sorgen um einen Mann machen, der schon kurz nach dem Mittagessen zum Alkohol greift?, endete der breitaufgemachte Artikel höhnisch. Billig, einfach nur billig, ein grauenhaft schlechtes Schmierentheater! Broder fluchte und wünschte dem miesen Schreiberling die Pest an den Hals, dem er sogar noch das Bier bezahlt hatte. Was für ein armseliger Lakai! Der widerliche, von Ehrgeiz zerfressene Dennunziant hat es sich redlich verdient, beizeiten in der Hölle zu schmoren, so es sie denn gäbe; man weiß ja nie, knurrte er zwischen den Zähnen hervor. Und dann passierte – nichts. Jedenfalls nicht viel. Er wurde nicht geschasst; natürlich nicht. Sein Herausgeber wollte keinesfalls auf Broders kluge, bitterböse, ironisch-sarkastische oder euphorische Kritiken verzichten. Die gut begründeten und haarscharf analysierten Rezensionen des Kritikers waren gut. Zu gut. Unerreichbar gut. Der Alte war goldwert.
„Lass mich mal machen, ich bügel das schon wieder aus, Mistkerl!“. Die kleine Nachricht seines Herausgebers erreichte Broder wenige Stunden nach Erscheinen des Aufmachers auf Seite 1 besagter Zeitung, für deren Inhalt der gebeutelte Chefredakteur, also der Ex-Mann der Theateregisseurin, vollumfänglich verantwortlich gewesen war. Es wurde ein Desaster. Der Artikel war für die gesamte Leserschaft allzu durchschaubar. Er war erkennbar schlecht geschrieben. Reißerisch. Klebrig. Eklig. Der Chefredakteur, dem die Schlagzeile als nachträglicher Rachefeldzug – zu Recht – gegen Broder ausgelegt wurde, fiel damit endgültig in Ungnade. Hätte er nur geschwiegen! Hätte er nur seine dunklen Triebe beherrscht. Rache ist nun einmal ein ganz erbärmliches Geschäft. Charakterlos obendrein. Ja, er konnte einem fast, aber wirklich nur fast, leid tun. Eigentlich war der Mann kein schlechter Kerl. Er war klug, gebildet und fleißig. Er hatte – wie schon gesagt – ganz einfach nur die Nerven verloren. Oder die falsche Frau an seiner Seite. Oder genau die zu ihm passende Frau, weil er so war, wie er war. Es spielt keine Rolle mehr. Gut, vielleicht fehlte ihm auch so etwas wie Demut. Moral. Bescheidenheit. Anstand. Vielleicht hatte er fatalerweise irgendwann die Bodenhaftung verloren. Ein Quentchen zu viel Hochmut. Zu eitel. Zu gierig. Zu sehr von sich überzeugt. Egal. Was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Keine. Fakt ist, so etwas geht einfach zu weit, weil: selbst der dümmste Leser durchschaute die Masche sofort. Aus und Vorbei. Der einstmals hochgepriesene Journalist sah ein, dass er sich verzockt hatte. Das Spiel war verloren. Ganz und gar. Als letzte Maßnahme feuerte er den nichtswürdigen Jung-Redakteur, der ihm das Ganze eingebrockt hatte, anschließend verließ er Deutschland in Richtung London, wo ihm von einem befreundeten Unternehmer ein lukrativer Posten angeboten worden war, den er nun überaus dankbar annahm. Und Broder? Broder hatte – wieder einmal – ein mittleres Beben überstanden. Alva, die nicht einen Moment lang daran gezweifelt hatte, schüttelte lachend den Kopf. „Menschen sind fehlbar. Nicht ausgeschlossen, dass wir uns irgendwann für all den Dreck, den wir im Laufe unseres Lebens schamlos unter unsere Teppiche gekehrt haben, verantworten müssen, bis dahin sollten wir die Zeit nutzen, uns in Redlichkeit und Großmut zu üben“, war der einzige und irgendwie listige Kommentar, der Broder noch entlockt werden konnte.
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